
Schicksale hinter Stolpersteinen
Traditionell führt die Stadt Straubing am 9. November eine Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht durch.
Der Titel der diesjährigen Veranstaltung lautet „Schicksale hinter Stolpersteinen“. Hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltungen findet eine Zusammenarbeit mit Studentinnen und Studenten der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, und dem dort ansässigen Institut für Sprechkunst statt.
Die Veranstaltung wird vom Bundesprogramm „Demokratie leben!“ und den Partnerschaften für Demokratie – „Wir sind Straubing“ unterstützt.
9. November 1938
Vom 9. auf den 10. November 1938, brannten die Synagogen. Sie brannten im gesamten Deutschen Reich. Sie brannten in Österreich und in der Tschechoslowakei. Der 9. November ist der Tag, an dem organisierte Schlägertrupps jüdische Geschäfte und Gotteshäuser in Brand setzten. Es ist der Tag, an dem tausende Juden misshandelt, verhaftet oder getötet wurden. Spätestens an diesem Tag konnte jeder in Deutschland sehen, dass Antisemitismus und Rassismus bis hin zum Mord staatsoffiziell geworden waren. Diese Nacht war das offizielle Signal zum größten Völkermord in Europa. (Landeszentrale für politische Bildung BW)
Unser Kampf um die Demokratie
Gedanken zum 9. November
In Amerika spaltet sich eine ganze Nation an der Frage, wer die Führung haben soll: der das bislang weiß geprägte Amerika oder der das zunehmend farbiger geprägte Land vertritt? Der demokratische Werte achtet oder der sie seinen Zielen unterordnet? In Belarus regiert ein Präsident, der seit vielen Wochen vom Großteil seines Volkes aus dem Amt gedrängt werden soll, weil er sich mit Gewalt und Unterdrückung an der Macht halten will. In Brasilien scheut ein Präsident nicht davor zurück, das wertvolle Gut des Waldes in seinem Land in Brand zu setzen, auch wenn es den Menschen die Lebensgrundlage entzieht. In Großbritannien spielt ein Premierminister solange mit den demokratischen Freiheiten, bis das gewünschte Ergebnis des Brexit herauskommt. In Polen, Ungarn und der Türkei werden Justiz- und Pressefreiheit so weit eingeschränkt, bis die gefügigen Mehrheiten entstehen. Und in Hongkong kämpfen vor allem junge Menschen um persönliche Meinungsfreiheit.
Und in Deutschland? Ist da alles in demokratisch bester Ordnung? Haben wir uns Meinungsfreiheit, eine unabhängige Presse und einen funktionierenden Sozialstaat bewahrt? Oder wird uns Amerika auch hier zum Vorbild werden? Die Spaltung unserer Gesellschaft scheint bereits auf dieser Spur zu sein. Eine Partei, die schamlos von einem Fliegenschiss sprechen kann, wenn es um die beschämenden Ereignisse in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts geht, weiß hinter sich zahlreiche Organisationen, die offen antisemitisch agieren. Und die Saat geht auf: ein Regierungspräsident wird ermordet, eine Synagoge beschossen. Jüdische Mitbürger werden auf offener Straße angegriffen. Felix Klein, der Antisemitismusbeauftrage der Bundesregierung, warnt davor, „überall in Deutschland die Kippa (traditionelle Kopfbedeckung der Juden) zu tragen.“
Und auch Straubing bleibt nicht verschont. Die Synagoge erhält gerade eine neue Pforte. Wegen des Anschlags auf die Synagoge in Halle waren für das Glasfoyer höhere Anforderungen vorgeschrieben worden: ein kugelsicheres Glas und eine Videoüberwachung. Ursprünglich war die Pforte gedacht als Raum, in dem besuchende Schulklassen ihre Ranzen ablegen könnten oder Gäste vor Gottesdiensten ihre Jacken. Das reicht nicht mehr. Auch an den Stammtischen wird der Ton hemmungsloser. Menschen, welche die aktuellen Corona-Regeln ablehnen, bedienen sich antijüdischer Symbole. Teilnehmer an Demonstrationen heften sich gelbe Sterne mit Aufschriften wie „nicht geimpft“ an oder behaupten, ein Immunitätsausweis wäre der ‚Judenstern 2.0‘.
Hat das eine mit dem anderen etwas zu tun? Gefährden Menschen, die gegen die Einschränkung von Grundrechten demonstrieren die Demokratie? Nein, sie bedienen sich lediglich ihrer Möglichkeiten. Aber wenn sie dabei auf den Umgang der Nationalsozialisten im Dritten Reich mit den Juden anspielen, verhöhnen sie nicht allein die Geschichte unvorstellbaren Leids auch unserer Straubinger Mitbürger. Wenn sie den Virologen Christian Drosten mit dem nationalsozialistischen Arzt und Kriegsverbrecher Josef Mengele gleichsetzen, verharmlosen sie dessen Anteil an dem Genozid an den Juden und stellen demokratisch legitimierte Entscheidungen damit auf eine Stufe. Das greift das Grundgerüst unserer Gesellschaft an, so wie es jeder Anschlag auf anders Denkende in unserem Land immer wieder tut. Der Anschlag auf die Synagoge in Halle galt nicht nur den Juden, er galt unserem Rechtssystem. Und er droht auch in Straubing.
Wenn Jahr für Jahr am 9. November der Schändung jüdischer Einrichtungen, Geschäfte und Synagogen gedacht wird, dann ist das schon längst kein historisches Erinnern mehr. Es ist der Kampf um die Grundwerte unserer Gesellschaft, die in langem oft leidvollem Kampf errungen wurden. Und es ist nicht mehr die Sache allein der Juden, wenn Hass und Ausgrenzung den Zusammenhalt in der Gesellschaft gefährden. Wo Hass mit Worten gesät wird, ist die Gewalt mit Taten schon im Kopf gebildet.
Laut Richard C. Schneider (Zeit Online, 17. Oktober 2019) macht sich immer mehr „Schamlosigkeit“ breit, nicht nur „bei Rechtsextremen und Neonazis, nicht nur bei rassistischen Linken, die in ihrem Hass auf Israel gerne antisemitische Klischees benutzen und nicht merken, dass sie keinen Deut besser sind als ihre NS-Vorfahren“. Der Antisemitismus sei „längst wieder in der Mitte der Gesellschaft“ (Bildungsbürger, Intellektuelle, Lehrer…), wo er auch nie weg gewesen sei. Das größte Problem sei, dass „Auschwitz“ zur „Messlatte für Judenhass“ gemacht worden sei, und alles, was angeblich „weniger schlimm“ sei, habe „jahrzehntelang sozusagen unten durchspazieren“ können.
In Bezug auf den häufig nach solchen Ereignissen verwendeten Satz „Wehret den Anfängen“ stellte Hanning Voigts von der Frankfurter Rundschau am 10.10.2019 fest, solange sich Deutschland der Illusion hingebe, „es gelte nur, irgendwelchen Anfängen zu wehren“, habe der Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus „noch nicht einmal begonnen“.
Die Geschichte hat gezeigt: wenn der ideologische Kampf an den Rändern beginnt, wird er in aller Regel in der Mitte gewonnen oder eben verloren. Wenn die Mehrheit weiter schweigt und denkt, es wird schon nicht so schlimm werden, dann gibt sie den Kampf um Demokratie und die Freiheit des Denkens auf. Wenn sich nur 400 Menschen in Straubing zu den Grundsätzen von „Wir sind bunt“ bekennen, werden Menschenrechte und Vielfalt zum Spielball von gruppenbezogenen Interessen. ‚Wir Deutsche‘, ‚wir Impfgegner‘, ‚wir Ostdeutsche‘ – die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.
Der 9. November ist also ein Tag des Kampfs um die Demokratie. Nehmen wir ihn auf. In den Amtsstuben, in den Kantinen, in den Kneipen, in den Klassenzimmern, in den Kirchen – überall lauert Antisemitismus und ideologische Ausgrenzung. Stehen wir ein für unseren Rechtsstaat, so verbesserungswürdig er auch sein mag. Stehen wir ein für ein Miteinander in Verschiedenheit, in den Religionen, in den politischen Einschätzungen, in den persönlichen Lebensentwürfen. Auch wenn Corona kein öffentliches Einstehen im Jahr 2020 ermöglicht: der 9. November bleibt ein Tag unseres Kampfes für Freiheit und Gerechtigkeit.
Statt einer öffentlichen Gedenkfeier wird es heuer ein Steinmal geben, das bei der Christuskirche in Bezug zu den dort eingelassenen ‚Stolpersteinen‘ im Gedenken an ermordete jüdische Mitbürger steht. Aufgestapelte Steine markierten früher den Ort des Begräbnisses und ersetzen oft auch den Grabstein. Im Judentum werden Steine auf einem Grabstein abgelegt, um die Toten zu ehren und in Stille Anteil zu zeigen. ‚Auch ich war hier‘, sagt man damit und lässt etwas zurück von sich, etwas, das mit Ehrerbietung für die Toten zu tun hat. Setzen wir einen Stein für die Demokratie und die Menschenwürde. Es zeigt: wir sind nicht allein mit unserem Kampf für die Rechte aller Menschen. Und es gibt viele, die das auch zeigen möchten: diskret, anonym — aber sichtbar. Als eine Geste, die Kraft gibt.
Hasso v.Winning
Begleitende Medien
Bilder
Impressionen zur Gedenkveranstaltung 2020 anlässlich der Reichspogromnacht
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Die offizielle Einladung zur Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht 2020 und die entsprechende Anmelde-Karte …